„Mama, was habe die gesagt? Wer hat geschossen? Und welche Piraten??“, fragt Sam ganz aufgeregt von hinten. Wir sitzen im Auto und im Radio laufen Nachrichten. Zuerst geht es um einen Überfall von Piraten vor der Küste Somalias, danach um den Krieg in Syrien.
Ich höre solche Nachrichten nur noch mit halbem Ohr. Nicht weil es mich nicht interessiert oder berührt, sondern weil ich mich einfach so machtlos fühle.
„Mama, was für Piraten?? Ist das wie Captain Hook?“, fragt er nochmal nach. Ich versuche, ihm möglichst vereinfacht und moderat zu erklären, dass die Piraten in Somalia nicht so entzückend sind wie Captain Hook aus Peter Pan, sondern eher irre gefährlich, weil sie nichts zu verlieren haben. Er hört zu und nickt. „Ish will nie nach Afrika, wenn da noch Piraten sind“, ist sein Fazit.
„Und was ist mit dem Schießen? Da ist doch jemand tot geschießt worden,“ geht die Fragerei weiter. Ja, das wird jetzt auch nicht einfach mit einer wertvollen und inhaltlich angemessen richtigen Antwort.
„Weißt du Sam“, versuche ich es, „es gibt Länder, da ist Krieg. Da bekämpfen die Menschen sich gegenseitig.“ Ich sehe im Rückspiegel große aufmerksame Kinderaugen.
„Mmh, aber warum, Mama?“.
Puh, ich ahnte, dass diese Folgefrage kommen würde. Ja, warum wird in Syrien gekämpft?
„Das ist ziemlich kompliziert und ganz ehrlich, ich versteh das auch ganz oft nicht. Weißt du…“, fange ich an nach Worten zu suchen, „ es gibt da einen Mann, der möchte gerne der Chef sein für alle Menschen, die in dem Land wohnen, aber nicht alle Menschen wollen, dass er der Chef ist.“
Ich höre wie es in seinem Kopf rattert. Und rattert. Und rattert.
„Aber Mama, wenn die andere Mensche nicht wollen, dass der der Chef ist, dann muss man sich abwechseln. Dann ist mal er der Chef und dann mal jemand anders. In der Kita machen wir das so. Da sage ich dann. ‚Nein, Carlos, jetzt will ich der Chef sein. Du darfst dann morgen wieder.’ So geht das, Mama.’“
Ja, so geht das. Ich nicke. „Ja, du hast total Recht. Manchmal wollen Menschen das aber einfach nicht so machen. Die wollen nicht abwechseln.“
Er denkt weiter nach.
„Ist auch nachts Krieg, Mama?“ „Ja, leider hört das nachts nicht auf“, antworte ich und versuche, ihn dabei im Rückspiegel zu beobachten und nicht einen Auffahrunfall zu provozieren.
„Aber wann slafen denn die Mensche dann?“, fragt er ganz besorgt und schaut mich mit seinen großen blauen Augen an. Und ehrlich gesagt wirft mich die Frage aus dem Ruder.
In dem Moment möchte ich ihn einfach nur in den Arm nehmen und beschützen. Ich möchte ihm zuflüstern: „Werde nicht so schnell groß!“ Ich will ihn fernhalten von all diesen Dingen und weiß natürlich, dass das nicht geht und dass das Leben aus Licht und Schatten besteht. Und er muss es ja auch mitkriegen. Denn wie entwickelt man sonst Empathie für diejenigen, denen es nicht so gut geht wie uns? Ich merke, wie mich seitdem diese Frage beschäftigt: „Ab wann bezieht man sein Kind in solche Themen mit ein?“
In unserer Nachbarschaft sind Flüchtlinge untergebracht. Der ganze Kiez hat geholfen, die Unterbringung einzurichten. Ich bin auch mit Sam dagewesen und wir haben mit anderen Kindern geholfen, das Spielzimmer einzurichten. Und während wir einräumten und putzten fingen die älteren Kindern eine Unterhaltung an: Über Krieg, über Hitler und was sie so im Geschichtsunterricht gelernt haben. Und ich lauschte gebannt. Und ja, manche Fakten kamen ein bisschen durcheinander („Und dann hat Hitler die Mauer gebaut!“), aber mit welchem Interesse und mit wie viel Empathie sie sich unterhielten und sich bemühten, den Raum für die Flüchtlingskinder möglichst schön zu gestalten, hat mich sehr berührt. Und so wie Sam in das Thema reinwachsen muss, so muss ich wahrscheinlich auch reinwachsen in meine Aufgabe, es im nahe zu bringen. Ich glaube unser Besuch war ein guter Anfang.
Seitdem kommt das Thema immer mal wieder auf. Am Wochenende saß er am Küchentisch und malte und fragte völlig aus dem Nichts: „Mama, ist Weihnachten auch Krieg?“ Ich bejahte und er sah mich mit festem Blick an und antwortete ganz ruhig: „Das ist nicht schön, Mama.“
Mein kleiner, weiser Mann.
Tags: Sam fragt
5 Comments
Ein schlaues Kind 😉
Wir wollen doch am liebsten unsere Mäuse vor all dem Bösen da draußen bewahren – sie beschützen, behüten – ihr Nest vor Eindringlingen fern halten und doch kommt nach und nach der Zeitpunkt wo Medien und Umwelt uns einholen und überholen und wir nur zusehen können und die richtigen Antworten parat halten – was auch immer die sind.
Du machst das gut Lucie und wir alle versuchen doch das Gleiche – wohin es sich entwickeln wird können wir nur begrenzt steuern..!
In diesem Sinne eine gute und friedliche Woche für alle!!
Danke Lucie für diese Worte! Ja, wir möchten unseren glücklichen und satten Kindern nur das schenken, was gut und schön ist. Aber über Armut, Krieg, Tod muss man auch (leider) reden. Ich ärgere mich, wenn meine Kinder z. B. mit dem Essen spielen oder es auf den Boden schmeissen. Dann sage ich: „Es gibt auf der Welt Kinder, die nicht so viel zu essen haben, wie ihr“. Sie werden dann ein bisschen ruhigen und versuchen mit vielen Fragen das genauer zu klären. Ob was hilft, weiss ich nicht. Auf jeden Fall kommt man an das Thema ein bisschen näher.
Danke Dir! Schön geschrieben!
Liebe Grüße aus München, Dominika
Liebe Lucie, mir kommen die Tränen. Dein Sohn ist wunderbar und zeigt, dass ihr als Eltern alles richtig gemacht habt – wenn man das überhaupt so sagen kann. Seine Empathie ist ein wunderschöner Charakterzug und in meinen Augen gibt es wenig, was wichtiger ist seinen Kindern mit auf den Weg zu geben. Ich finde es immer wieder bewundernswert, wie Kinder mit ihrem naiven Harmoniebedürfnis die Wahrheit sagen. Da können wir uns alle eine Scheibe von abschneiden!
Liebe Lucy, wie wunderbar, dass ihr über solche Themen redet, dass Sam die Chance bekommt, da hinrinzuwachsen, und dass ihr sogar selbst mit angefasst habt für die Flüchtlinge!
Wir sind in den letzten Monaten quer über den Balkan gereist, wo die Spuren des Krieges immer noch erschreckend sichtbar sind, und natürlich war dieser Teil der Geschichte ständig Gesprächsthema. Ich war auch immer wieder unsicher: Wie nahe soll man Kindern solch ein Thema bringen? Aber ich glaube, wenn man die Lütten das Gespräch bestimmen lässt und nur auf explizite Nachfrage doziert, dann ist das durchaus gut für ihre Entwicklung. Und dann kommt gerade von der Rücksitz-Fraktion oft ganz große Weisheit, von der wir Erwachsenen uns ruhig eine Scheibe abschneiden können. Aber das weißt du ja schon. 🙂
Viele Grüße, jetzt gerade aus der Türkei,
Lena
[…] sie mit ihren Kindern über solch schreckliche Dinge reden können. ‘Frau Mutter’ und ‘Lucie Marshall’ schreiben sehr lesenswert auf ihren Blogs, wie sie mit dieser Thematik umgehen. Teilen:Gefällt […]