Nach einer Woche sind wir zumindest in unserem Haus schon wieder voll in die alten Abläufe integriert. Spätestens um 17 Uhr klingelt es an der Wohnungstür und die Nachbarstochter Sophie steht da mit den Worten: „Heute esse ich bei dir, Lucie!“ Und dann gesellt sie sich zu Sam und dem Nachbarsjungen Luis, die bereits das Kinderzimmer auseinandernehmen, während sie abwechselnd in die Trillerpfeife oder die WM –Tröte blasen.
Um 18.30 sitzen dann alle am Abendbrottisch. Und das ist, ehrlich gesagt, mein persönliches Highlight. Ich liebe es, mit einer Kinderschar am Tisch zu sitzen und mich mit ihnen zu unterhalten oder noch besser ihren Gesprächen zu lauschen.
Aus irgendeinem Grund landen wir letzte Woche bei dem Thema Märchen. Und Luis und Sam möchten gerne, dass ich „Hänsel und Gretel“ erzähle. Da ich weiß, dass Sam und Luis die Mega – Schisshasen sind entscheide ich mich für die „Lightversion“ von Hänsel und Gretel. Ich habe keine Lust auf Alpträume und einen Rüffel von Luis Mutter. Allerdings habe ich die Rechnung ohne Sophie gemacht, die nicht nur auf die Wahrheit pocht, sondern jetzt, im zarten Alter von fünfeinhalb schon ein Faible für Horror – Geschichten zu haben scheint.
Ich fange also an: „Hänsel und Gretel gehen im Wald spazieren. Und damit sie den Weg nicht vergessen, haben sie Brotkrumen mitgenommen. Die bröseln sie hinter sich her. Als sie am Abend nach Hause wollen, da fällt ihnen auf, dass die Brotkrumen weg sind, weil die Vögel sie alle aufgepickt haben! Und jetzt wissen sie gar nicht, wie sie nach Hause kommen.“
Bereits an diesem Punkt in der Geschichte sehe ich in die entsetzen Gesichter von Luis und Sam, denen fast die Maultaschen aus dem Mund fallen. Ich hole schnell Luft, um weiter zu erzählen, da höre ich von rechts in einem belehrenden Ton: „Nein, Lucie, das stimmt aber gar nicht!“
Ich drehe mich zu Sophie. Die genießt es sehr, dass Sam und Luis ausnahmsweise mal den Mund halten und sie zum Zug kommt. „Die Mutter“, sagt sie ganz wichtig, „hat die Kinder in den Wald geschickt, damit die sich verlaufen!“ Entsetzen auf der linken Seite. Sam hat Tränen in den Augen, Luis schluckt.
„Mmmmh“, versuche ich die Situation zu entschärfen, „Wirklich? Mmmh. Auf jeden Fall stehen Hänsel und Gretel plötzlich vor einem ganz schönen Knusperhäuschen mit ganz vielen Süßigkeiten drauf!“ Ein Lächeln erscheint auf den Gesichtern von Sam und Luis. Ich wäge mich in Sicherheit, da ertönt von rechts: „Das stimmt nicht, Lucie! Die haben zuerst wieder nach Hause gefunden und dann hat die Mutter sie noch tiefer in den Wald geschickt!“
Oha. Das ist aber auch wirklich grausam. Und auch nicht mehr schön zureden. Um ehrlich zu sein, hatte ich dieses Detail des Märchens selber verdrängt. Ich komme ins Schwitzen und versuche krampfhaft darüber nachzudenken, wie ich das Abendessen rette. Luis ist völlig verstummt. Seine Wangen sind rot und er hält seine Gabel wie ein Speer in die Luft. Auf ihr hängt noch eine halbe Maultasche. Sams Unterlippe zittert und er sieht mich an: „Stimmt das, Mama?“ Verflucht, verflucht, verflucht. Das Abendessen hätte so schön sein können.
Da rettet mich Luis. „Fliegenpilze darf man nicht essen, weil da Fliegen drin wohnen!“, platzt es aus ihm heraus. Es ist fast wie eine Übersprungshandlung. Ich gehe dankbar darauf ein: „Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Ich dachte, man sollte die nicht essen, weil die giftig sind.“
„Nein“, sagt Luis, „weil da Fliegen drin wohnen!“ „Aber auch weil die giftig sind, stimmt doch, Mama, oder?“, wirft Sam ein. Ich nicke. Luis nickt ebenfalls: „Ja, genau!“
Aber Splatter-Sophie hat noch nicht genug. „Und dann macht die Hexe Hänsel und Gretel ganz lieb ein Bett!“, legt sie fröhlich los, aber dann wird ihre Stimme tiefer, “in der Nacht holt sie den Hänsel und steckt ihn ins Verließ! Und die Gretel muss Kartoffeln schälen!“
Das läuft völlig aus dem Ruder. „Ja“, hake ich ein, „aber ihr esst jetzt mal eure Maultaschen sonst gibt es keinen Nachtisch!“
Sophie steckt sich brav eine in den Mund, was sie aber nicht davon abhält weiter zu erzählen. „Aber dann will die Hexe ein Feuer machen, aber das schafft sie nicht, und darum soll die Gretel das machen! Aber dann schubst die Gretel die Hexe in den Ofen! Und dann holt sie den Hänsel und dann singen sie“ Die Hexe brennt, die Hexe brennt!“
Den Teil finden Luis und Sam auch wieder spitzenmäßig und jetzt singen drei Kinder mit vollem Mund „die Hexe brennt“. Das ist noch mal gut gegangen, denke ich. Aber dann fragt Sam: „Und was ist mit der Mama?“ „Die ist tot“, antwortet Sophie ganz nüchtern und schiebt sich die letzte Maultasche in den Mund. Das Entsetzen ist groß an der Jungsfront („Aber mit wem sollen die Kinders denn dann kuscheln?“), ich weiß nicht weiter und sage: „Wer will ein Eis zum Nachtisch?“ Die tote Mutter ist vergessen, das Eis wird verschlungen und alle rennen in Sams Zimmer.
Nach 5 Minuten kommt Sophie zu mir. „Du Lucie, die lassen mich nicht in das Zimmer!“
„Sag ihnen viele Grüße von mir, die sollen dich reinlassen, sonst komm ich!“
Ich höre wie sie zur Tür geht und klopft: „Sam, viele Grüße von deiner Mutter! Wenn du mich nicht rein lässt, dann kommt sie!“
Die Tür bleibt verschlossen.
Sophie setzt nach: „Oder sie schickt euch in den Wald!“
Die Tür fliegt auf.
Ich sag’s euch, ich sehe Sophie jetzt schon mit 18 im Kino in einem Mörder-Horror-Splatter-Film sitzen – mit einer großen Tüte Popcorn. Und während alle um sie herum sich die Hände vor das Gesicht drücken oder sich mit dem Rücken zur Leinwand drehen, wird sie munter Popcorn essen und brüllen: „Was ist los?? Mir wurde ein Horrorfilm versprochen!!“
Tags: Klischees Sam fragt
8 Comments
Hahahahaha. Aha, die Kinder werden also immer in den Wald geschickt! Wirkt diese Erziehungsmethode? Sollte ich mir dann vielleicht mal abgucken 🙂
LG Jasmin
Also, bei Sophie anscheinend… bin mir nicht gaaaaanz so sicher, ob das die beste Lösung ist…. 😉
Ich schmeiß mich weg! Hahahaha!
😉
Märchen erzählen Kindern nicht, dass Drachen existieren. Denn das wissen Kinder schon. Märchen erzählen den Kindern, dass Drachen getötet werden können. — G.K. CHESTERTON
[…] geht´s zum Originaltext: https://www.luciemarshall.com/de/?p=5776 Share Previous PostElternkind-Turnen und Helikopter-Eltern, oder […]
[…] geht´s zum Originaltext: https://www.luciemarshall.com/de/?p=5776 Teilen Vorheriger BeitragElternkind-Turnen und […]
Ich verbringe wöchentlich in etwa eine halbe Stunde auf deiner Website
und finde immer wieder informative Beiträge von Ihnen. Hoffe diese Homepage gibt es noch lange!