Sam will den Nachmittag nicht in seiner Kita verbringen. Er will es einfach nicht. Auf die Nachfrage, was genau ihm nicht gefällt, bekomme ich die Antwort: „ Ish mag die toys nicht.“ Mehr ist nicht aus ihm herauszukriegen.
Nachmittags steht in der Kita immer Projektearbeit auf dem Plan. Und die machen da sensationelle Sachen. Sie bauen Fallschirme und Raketen aus alten Filmrollen. Ehrlich gesagt bin ich etwas neidisch. Ich würde da sofort mitmachen, aber Sam weigert sich. Und während ich zuerst genervt bin und so pädagogisch wertvolle Sprüche wie „Sam, andere Kinder bleiben ja auch in der Kita bis 15 Uhr“ oder „Sam, reiß dich mal zusammen“ von mir gebe, kommt mir ein ganz anderer Gedanke: Wie würde es dir dort gehen, Lucie? Und was brauchst du eigentlich, damit du dich wohlfühlst und richtig Wind unter die Flügel bekommst? Irgendwie fragt man sich das doch selbst viel zu selten, oder?
Denn für mich gibt es auch eine ganz spezielle Gebrauchsanweisung. Mein Buch zum Beispiel, das im Herbst erscheint, habe ich nicht am Schreibtisch sitzend geschrieben. Mein Hirn ist wie gelähmt, wenn ich sitze. Ich muss mich bewegen. Ich „schreibe“ also im Gehen im Kopf vor, verwerfe, bastele an Formulierungen und flüstere vor mich hin. (Ich weiß, das Flüstern ist irre schrullig.) Die ersten 60 Seiten des Buches habe ich im Kopf „geschrieben“, während ich den Kinderwagen mit meinem Neugeborenen durch die Parks und Straßen schob.
Wenn ich mich dann hinsetze, schreibe ich nur runter, was bereits im Kopf fertig „steht.“ Ich bin gänzlich ungeeignet für jegliche Arbeit, die mich lange sitzen lässt. Zuviel Struktur bricht mir die Flügel.
Ich konnte noch nie Vokabeln auswendig lernen. Ich muss mit den Menschen sprechen, fremde Straßenschilder lesen, mich auf Märkten herumtreiben. Die traditionelle Schulform war für mich eine Qual und einzig die preußische Erziehung meines Vaters und mein Ehrgeiz haben mich überhaupt das Abi schaffen lassen. Und ich hatte das große Glück, immer wieder Lehrer zu haben, die mich richtig gesehen und mir den Raum gegeben haben.
In der 11.Klasse hatte ich Latein dazu gewählt. Ich dachte, ich müsste das tun. Naja, gut und dann war da noch dieser skandinavische Austauschüler, der auch Latein gewählt hatte und wirklich irre blond und süß war.
Die ersten 3 Monate liefen ganz gut. Ich fand meinen Lehrer großartig. Er war der Rockstar an der Schule und machte wirklich phantastischen, unterhaltsamen Unterricht. Er ließ Latein interessanter wirken als ein Konzert der Rolling Stones. Aber in Latein kommt man um das Vokabeln lernen nicht herum. Nach 6 Monaten hatte ich einen Knoten im Kopf und der Lehrer nahm mich zur Seite: „Lucie, musst du Latein belegen?“ Ich sah ihn mit großen Augen an. Er widerholte: „Lucie, MUSST du Latein belegen?“ Ich verstand immer noch nicht. War das eine Fangfrage?
„Lucie, mal unter uns beiden. Du bist ein großartiges, talentiertes Mädchen. Aber deine Talente liegen nicht im Büffeln alter Sprachen. Warum verschwendest du deine Zeit hier? Mach das, worin du gut bist!“ Für einen kurzen Moment befand ich mich im Schockzustand, dann habe ich mich für die Theater AG angemeldet und war die Janet in der „Rocky Horror Picture Show“. Ein Riesenerfolg.
With all that in mind: Will ich wirklich meinen Sohn zu etwas zwingen, was ihm nicht nur keinen Spaß macht, sondern ihn ganz eindeutig stresst (siehe abgebissene Fingernägel und jeden morgen Heulkrämpfe). Sam ist in vielen Dingen ganz anders als ich. Aber er ist auch ein Freigeist. Er sitzt stundenlang mit seinem Lego in der Ecke, baut irre Spaceshuttles und erzählt sich dabei Geschichten. Während er auf seinem Scooter neben mir herfährt, flüstert er vor sich hin und lacht in sich hinein, um mir dann lachend von einer sehr lustigen Begebenheit zu erzählen, die er sich gerade ausgedacht hat. Er malt und erzählt. Er kann nicht still sitzen. Wie ich. Er muss durch Parks rennen, wie ein junger Hund, auf Bäume klettern und laut Lieder schmettern.
Ich hole ihn jetzt schon immer mittags ab, das Nachmittagsprogramm läuft ohne seine Teilnahme. Die Lehrer in der Kita rollen mit den Augen und fühlen sich auf den Schlips getreten. Ich kann es nicht ändern.
Wir erkunden die Stadt. Wir verbringen Stunden in Museen, auf dem Spielplatz, beim Piratenspiel und mit den Steckperlen. Was für ein Glück, dass ich die Freiheit habe das so machen zu können. Ich weiß, dass das ein großer Luxus ist. Der aber eigentlich keiner sein sollte.
Tags: Dankbarkeit Erziehung
3 Comments
Ach Lucie, Du bist toll. Bewegung beflügelt den Geist
Danke Lucie, ich könnte das Selbe von mir und meinen Kindern erzählen. Schwierig ist für mich die Vorstellung einer Ganztagesschule, Ganztagsbetreuung usw. Meine Kinder brauchen die freie Zeit im Kinderzimmer am Nachmittag. Wenn sich die Nachbarskinder zu Ferienbetreuung und Freizeiten anmelden und begeistert davon erzählen, hör ich von meinen Kindern „Mama, ich möchte lieber nicht dabei sein“. Ich kann machen was ich will, sie sind so gern zu Hause. Sie basteln, bauen und spielen so wunderbar zusammen, da bin ich froh ihnen diese Zeit geben zu Können und dafür bin ich auch sehr dankbar!
Auch wir haben das Glück, dass ich trotz Job (den ich liebe) an 3 Nachmittagen unter der Woche daheim bin – das ist unsere Zeit, in der wir ganz viel zusammen machen, oder auch mal jeder für sich etwas mit Freunden unternimmt…….. Alles ohne Druck, ohne Pflicht, einfach nur weil es Spass macht. Ich liebe diese Zeit und hoffe, dass wir die noch ganz lange haben werden.