„Früher hatten die Kinder immer so dicke gelbe Popel an der Nase hängen!“, sagt meine Freundin Raffaella. Ich stehe im Supermarkt und mein Handy klemmt zwischen Schulter und Ohr. „Wovon redest du?“, frage ich unwirsch, mein Nacken ist verkrampft und meine Einkaufsliste lang.
„Ich habe mir gerade alte Kindergartenbilder von mir angesehen und auf jedem Bild hat wenigstens ein Kind so ein dickes gelbes Rotzdingsda an der Nase.“ „Das ist ekelig, Raffaella, ich muss jetzt einkaufen!“
Sie ignoriert meine Antwort: „Mir ist noch etwas aufgefallen. Früher hatten wir richtige Kinderklamotten an. Ausgeleierte Cordhose mit Flicken drauf und dann schlicht und ergreifend eine T-Shirt. Einfach ein T-Shirt! Da war ein Mickey-Mouse-Aufdruck eine Sensation!“
Ich sehe verstohlen hinüber zu dem Vater, der mit seiner Tochter neben mir an der Käsetheke steht. Die Kleine trägt eine süße pinke Regenjacke mit kleinen Glitzersternchen, darunter einen gestreiften Rock, der aussieht wie der einer Flamencotänzerin, pinke Strumpfhosen mit grünen Punkten und die kleinen Füße stecken in UGG Boots. Sie sieht umwerfend süß aus und ist eindeutig besser gestylt als ich in diesem Moment (Jeans, Chucks und ausgeleiertes T-Shirt).
Ich bin ziemlich sicher, dass ich klamottentechnisch auch nur schwer zu bremsen wäre, wenn ich eine Tochter hätte. Bei Sam hält sich das in Grenzen. Er hat jetzt schon einen differenzierten Kleidungswunsch: „Störwörs T-Shirt, Mama!“ Und außerdem kann man bei Jungs halt auch nicht ganz so gut durchdrehen wie bei Mädchen.
„Wir rauben unseren Kindern doch ihre Kindheit, wenn wir sie ausstaffieren wie kleine Püppchen“, fährt Raffaella fort. Auweia, sie hat ganz eindeutig einen Moralischen, ich kann sie jetzt nicht abwürgen. Ich stelle die Einkaufstasche hin und nehme das Handy in die Hand: „Raffaella, was ist denn los?“
„Ach, ich weiß auch nicht“, schnieft sie, „Irgendwie ist es alles so kompliziert geworden. Wenn ich Greta nicht von Anfang an in die richtige Kita stecke, dann verpatze ich vielleicht ihre Zukunft. Wenn sie nicht das Richtige anhat, dann wird sie vielleicht gemobbt. Und sie ist ja schon fast vier und hat sich noch kein Instrument ausgesucht. Ich will wieder dicke Popel und Mickey-Mouse-T-Shirts.“
Ich weiß, was sie meint. Aber war früher wirklich alles besser? Oder ist das Gras drüben einfach immer grüner, weil wir es gerade im Hier und Jetzt so anstrengend finden und bloß nichts falsch machen wollen?
„Raffaella, ich glaube, dass mit den gelben Popeln und den Cordhosen ist so, wie mit unserem letzten Sommerurlaub. Kaum zu Hause, wollte ich wieder zurück. Dass es nachts zu heiß war und die Mücken uns bei lebendigem Leib gegessen haben, habe ich verdrängt. Ist ja auch irgendwie gut, dass wir so funktionieren. Es würde sonst wahrscheinlich nur Einzelkinder geben, wenn wir uns zum Beispiel alle noch in allen Einzelheiten an die Geburt erinnern könnten.“
Sie steigt nicht so richtig auf meine Theorie ein. Ich versuche es noch mal ganz anders:
„Vielleicht müssen wir auf eine Südsee-Insel auswandern, wo man nackt rumläuft und seine Kinder selbst unterrichtet“, versuche ich sie aufzumuntern.
„Nach drei Kindern und vier sportfreien Jahren laufe ich bestimmt nicht nackt in der Südsee rum“, grummelt sie zurück.
„Hat dein Freund Jesper nicht ein schlaues Buch darüber geschrieben?“ Ich gebe nicht auf sie aufzuheitern.
„Mach dich nur lustig über mich, Lucie, früher gab es solche Bücher gar nicht und man hatte darum auch kein schlechtes Gewissen, wenn man sie nicht gelesen hat.“
„Na gut, dafür haben wir aber auch alle jahrelange Therapien und Selbstfindungskurse hinter uns.“ Egal was ich sage, ich krieg sie nicht aus ihrer Stimmung. Und ich habe auch keine richtige Antwort. Habt ihr eine? War es früher einfacher? Und was ist besser heute?
Freue mich über aufmunternde Worte und leite sie dann auch umgehend an Raffaela weiter.
Tags: Erziehung Jesper Juul
8 Comments
Was definitiv früher einfacher war ist, dass sich Mütter nicht andauernd gefragt haben, ob sie einen guten (noch besser seeeehr guten) Job machen. Meine Mutter hatte und hat wirklich keine Selbstzweifel, was ihre Rolle als Mutter angeht. Das finde ich schon sehr anstrengend heute. Und sie hat mich in praktische Cordhosen gesteckt. Und jetzt habe ich einen Kleider-Handtaschen-Schuhe-Fimmel. schlimschlimmschlimm…
Der Kleider-Handtaschen-Schuhe- Fimmel ist genetisch! Den kreigen wir zu 98 % alle mit… aber diese Selbstzweifel und Optimierungshampeleien sind hausgemacht…Lass es uns ändern! Oder so!
vieles war einfacher als heute…..einfach den Müll auf die Halde gekippt und die Abwasser direkt in den Bach oder See geleitet!! Kein Tempolimit dafür mehr schlimme Unfälle …prügelnde Lehrer und Rotznasen zuhauf…. von welchem „Früher“ reden wir …. ich hab Jg. 55 …
es gäbe noch vieles zum erzählen …;))
Oh ja, an Chemiereiniger einfach in den Busch schütten erinnere ich mich auch noch! Das wollen wir nicht! 🙂 Und ich galueb Raffaella auch nicht… aber beim Muttersein war tatsächlich manches einfacher, weil die Kinder so mit gelaufen sind ohne intellektuellen Überbau…auf jeden Fall bei meinem Jahrgang. Aber erzähl mal von Deinem! Das interessiert mich, auch wenn du nicht Mutter bist… 🙂 Schönen Tag!
Das waren Zeiten, als die Gummistiefel noch aus Holz waren.
DAVON will ich mehr hören, bitte! Gummistiefel aus Holz? Selbstgeschnitzt?
In Holland gibt es sie noch, allerdings nur in der kurzen Variante. Werden dort klompen genannt.
Danke für die Info! Beim nächsten Amsterdam Besuch schau ich mal! 🙂