Am Sonntag waren wir beim Kindergeburtstag eingeladen. Sams Freund Jesaja wurde drei. Das Beste an diesem Geburtstag war, dass Jesajas Mutter mir angeboten hatte, dass ich Sam abgeben kann und nicht dabeibleiben muss. Herrlich!
Gegen 18 Uhr hole ich Sam von seiner ersten ‚Party ohne Begleitung‘ wieder ab. Er ist natürlich völlig überdreht und begrüßt mich mit schokoverschmiertem Gesicht, glühenden Wangen und völlig außer Atem vom vielen Toben.
Ich will nach Hause und bitte ihn, seine Schuhe zu holen. Er rennt los und auf dem Rückweg zu mir, haut er im Vorbeirennen einem kleinen Mädchen auf den Rücken. Die erschreckt sich natürlich und fängt an zu weinen. Ich schnappe mir Sam: „Nee, Schätzchen, das geht nicht. Schau mal, das Mädchen weint. Die hat sich total erschrocken. Ich möchte, dass du dich bitte entschuldigst.“
Sam steht mit verschränkten Armen vor mir: „Isse nicht meine friend. Will keine Kiss geben, Mama.“
Dass Kinder immer so ehrlich und undiplomatisch sein müssen. Das kleine Mädchen ist in die Arme ihres Vaters geflüchtet, und der schaut mich total entsetzt an. Am liebsten würde ich Sam jetzt einfach zwingen, aber erstens geht das mit Sam nicht und zweitens habe ich ja den Jesper Juul schließlich schon mal quer gelesen.
„Sie muss auch nicht dein Freund sein und du musst sie auch nicht küssen, aber eine Entschuldigung fänd ich schon angebracht“, versuche ich die Situation zu retten. Damit begehe ich ja schon laut Jesper Juul einen Faux pas, denn der würde nie eine Entschuldigung einfordern, sondern lediglich die Situation beschreiben: „Du hast gehauen, dann musst du wütend gewesen sein, magst du mir sagen warum?“
Aber erstens durchbohren mich die Augen des Vaters und außerdem glaube ich, dass Sam einfach nur unter Zuckerschock und zuviel Energie leidet. Der Vater sieht das natürlich anders. Er will seine Tochter gesühnt sehen. Bisher hat er noch nichts gesagt, das aber sehr laut.
Sam nuschelt eine Entschuldigung und streichelt der Kleinen mit einem Finger über die Schulter. Gut, das hätte ich mir jetzt auch anders gewünscht, aber es ist bereits weit nach 18 Uhr, nach einem harten Arbeitstag auf dem Kindergeburtstag, da sollte man die Kirche im Dorf lassen.
Ich bin schon dabei die Sache innerlich abzuhaken, da fährt der Vater auf: „Ich habe gesehen, dass ihr Sohn meine Tochter vorhin auch schon geschubst hat. Der ist ja gar nicht zu bändigen.“
Sein Gesicht glüht und wenn man ihm zuhört, dann könnte man tatsächlich meinen, Sam hätte das Mädchen den ganzen Nachmittag lang gefoltert. Jesajas Mutter kommt dazu. Ihr ist das alles unangenehm und sie versucht den Vater zu beruhigen: „Es sind Kinder, die probieren sich eben aus.“
Ich bin völlig baff. Die Situation droht zu kippen, die Kinder sind übermüdet, Sam merkt, dass es um ihn geht und wird noch wilder, das kleine Mädchen weint noch lauter, der Vater empört sich noch mehr und ich beobachte das Ganze und denke: WOW! Was für eine interessante Dynamik, so schnell wird also ein wildes Kind zu einem Störenfried, dann zu einem Schläger und was bleibt als Letztes: das RTL2-Erziehungscamp inklusive Diagnose ADHS.
Der Vater verlässt wutschnaubend mit seiner heulenden Tochter den Geburtstag, ich packe Sam, stecke ihn in seinen Schneeanzug und versuche, möglichst schnell nach Hause zu kommen. WAS war das denn, bitte? Ich koche vor Wut.
Dürfen Kinder sich jetzt auch nicht mehr streiten? Müssen alle nur noch brav und lieb und vor allem gruppenkonform sein? Wir wollen zwar keine Waschlappen und Supersofties als Männer, aber als Jungs dürfen sie nicht ihre Grenzen austesten. Und was geben wir den Mädchen mit? Ihr habt keine eigenen Ressourcen, euch zur Wehr zu setzen. Und alleine könnt ihr Konflikte schon mal gar nicht lösen. Obendrein nehmen wir den beiden auch den Genuss des sich Vertragens. Was haben wir uns als Kinder in den Haaren gehabt und genauso schnell wieder vertragen.
Es ist nicht so, dass ich den Vater nicht verstehe. Die Beschützerinstinkte sind schwer zu unterdrücken. Einmal hat Jesaja Sam gebissen. Aber so richtig. Ich musste mich in dem Moment schwer zusammenreißen, um nicht zurückzubeißen.
Wollte Jesaja in dem Moment nur Kontakt? Ein Einfaches. „will spielen“ hätte es auch getan. Oder war er einfach frustriert, weil er noch nicht richtig sprechen konnte?
Auf jeden Fall prangte tagelang ein blauer Bluterguss an Sams Oberarm mit deutlich sichtbaren Zahnabdrücken (inklusive Zahnlücke). Begeistert war ich auch nicht, aber ich habe geschafft (wenn auch unter Schmerzen) die Klappe zu halten. Wenn wir jetzt unseren Kindern mit diesem intellektuellen Besserwissen auch noch eine der letzten Bastionen nehmen, um „sich auszuprobieren“, dann wird es eng. Und von diesen Kindern will ich in 40 Jahren auch nicht gerne gepflegt werden.
P.S.1
Am Montag ruft mich Jessajas Mutter an: „Ich habe gerade auf dem Weg zur Kita Sams Opfer mit Vater getroffen. Er hat sich entschuldigt. Es tut ihm total leid. Er hätte sich einfach so erschrocken und dann total überreagiert.“ Chapeau!
P.S. 2
Große Hochachtung bekommen auch alle Co-Bäcker, die mir bei meiner bäckerlichen Ehrenrettung zur Seite gestanden haben – mit Wort und Tat!
Laura hat aus dem Rezept von Elfenkind sogar einen sensationellen Kuchen für alle gezaubert, die eine Laktose- und Glutenunverträglichkeit haben: Bitte hier lang!
Franzi und Kim (Foto) haben sich ans Rezept gehalten und haben eine große Zukunft im Bäckergewerbe! You rock, girls!
Meine, naja, was soll ich sagen? Die Himbeeren zur Deko hat Sam alle gegessen während die Cupcakes abkühlen sollten und irgendwie wollten die Dinger nicht so wie im Rezept…. ich überlasse die Bäckerhauben meinen Männer und stelle mein Ego in die Ecke.
Tags: Jesper Juul Klischees Vorbild
2 Comments
Chapeau, wirklich, vor dem Vater – ich vermute, er hat sich zuhause mit seiner Holden besprochen und die hat ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht…
Ich habe auch gelegentlich die Erfahrung gemacht, dass Väter in solchen Situationen etwas realitätsfremd reagieren. Hier hat mal ein fremder Vater, der vor meiner Tür stand, drei Jungs so angemeckert, dass ich ihm fast Hausverbot erteilt hätte. Der Vater war beleidigt, weil die Jungs sich in die Haare bekommen hatten und er nun seinen Sohn abholen musste. Sowas kommt halt vor!
Herzlichen Gruss, Christine
Ich bin mir sicher, das er zu Hause mit seiner Frau gesprochen… was wäre die Welt nur ohne uns?? 🙂